Für seine Zeichnungen führt der Künstler mit Hilfe einer Ellipsen-Schablone den Tuschepinsel über die Wand bzw. das Papier. Die Zeichnungen sind also keineswegs computergeneriert, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag - allerdings durchaus Ergebnis der Beschäftigung mit dem Computer. "Es reizt mich besonders, Zwischenpositionen einzunehmen", sagt Mayer, "zwischen Computerzeichnung und Freihandzeichnung beispielsweise, da sich aus solch einer Haltung heraus mit Leichtigkeit Vorstöße in die verschiedensten Richtungen unternehmen lassen." Zu den jüngsten Vorstößen gehören "Plots": sie basieren auf Tuschezeichnungen und werden mit Hilfe eines computergesteuerten Folienschnitts an Wand oder Decke "gedruckt" – wie im Aufgang zur Oechsner Galerie.
Geprägt wird die Ausstellung von der Wandzeichnung "Bacteriorhodopsin II". Der Titel bezieht sich auf ein Enzym, mit dessen Hilfe Wissenschaftler die Lichtgeschwindigkeit verlangsamen. Die Wandzeichnung "Bacteriorhodopsin I" wurde Anfang dieses Jahres für eine Ausstellung in Brüssel realisiert. Bei einer Entfernung Brüssel-Nürnberg von 500 Kilometern würde das Licht bei seiner höchsten Geschwindigkeit eine sechshundertstel Sekunde brauchen - dies erklärt den Ausstellungstitel in der Oechsner Galerie.
Mayers Zeichnungen, ob raumbezogene Wandarbeiten oder Tuschezeichnungen auf Papier, folgen festen Regeln, die sich der Künstler im Laufe seines Schaffens selbst auferlegt hat. So berühren sich die Linien in seinen Zeichnungen nie, wodurch alles freier und beweglicher erscheint. Jeder Tuschestrich folgt der Form der Ellipse, wodurch selbst die kleinsten Linien in ein dynamisches System eingebunden sind, wie ein Magnetfeld einen unsichtbar bleibenden Gegenstand umgeben. Der Künstler erklärt es an einem plastischen Beispiel: "Wenn man sich einen nassen Hund vorstellt, der sich schüttelt und die Wassertropfen fliegen in hohem Bogen davon, sich dann aber das gleiche Bild ohne den Hund vorstellt, so lässt die Flugbahn der Tropfen Rückschlüsse auf die Bewegungsstruktur und die Form des Hundes zu. Für mich ist es viel interessanter, den Energiefluss und die Beziehung des Objekts zur Umgebung zu zeigen, als das Objekt an sich."
Bewusstsein und Wahrnehmung des Künstlers wurden in den vergangenen Jahren nachhaltig durch die Beschäftigung mit der Quantenphysik beeinflusst: "Die Vorstellung, dass alle Materie, so fest und undurchdringlich sie uns auch erscheinen mag, eigentlich ein loses Gitter ist, das permanent von kleinsten Teilchen durchdrungen wird und mit anderen Elementen in Verbindung steht, finde ich äußerst anregend", sagt Mayer. "Oder dass es den wirklich leeren Raum überhaupt nicht gibt und dass das sichtbare Licht, ohne das es die bildende Kunst ja ziemlich schwer hätte, ebenso wie jede Materie aus Teilchen besteht, die den Einflüssen der Gravitation unterliegen und letztendlich hinter fast allem ein systematisches Regelwerk steht."
Auf den ersten Blick völlig andersartig sind Gerhard Mayers Puzzle-Arbeiten. Sie sind aus seiner Beschäftigung mit der Collage-Technik entstanden und führen in ihrer Wirkung gleichzeitig zur Malerei zurück. Mitte der neunziger Jahre begann Mayer während eines Frankreich-Stipendiums, Teile aus verschiedenen Postkarten in der Technik der Einlege-Arbeit neu zusammenzusetzen. Das Problem der Schnitte, Risse und Übergänge in der Collage-Technik fand er wenig später im Kinderzimmer seines Sohnes, wo mehrteilige Stücke eines Puzzles übereinander lagen, noch überzeugender gelöst: "...erstaunt, wie perfekt die visuelle Verschränkung von hinten und vorne funktionierte und der Zusammenhang von Binnenstruktur und Außenform eine malerische Einheit bildete". Die in der Oechsner Galerie gezeigte Arbeit #52 spielt wie vorangegangene Puzzle-Collagen derart intensiv mit Kitsch und Klischee, dass sich die scheinbar heile Welt der vorgefertigten Bilder ins Gegenteil zu verkehren scheint.
Der Künstler erklärt den Zusammenhang zwischen Tuschezeichnungen und Puzzle-Arbeiten so: "Bei den Puzzle-Collagen gehe ich von mehr oder weniger realistischen Bildern aus und verdichte sie zu nahezu abstrakten Kompositionen. Bei den Zeichnungen hingegen transformiere ich eine abstrakte Struktur in eine Andeutung von Realität."
Auf der Grundlage klar kalkulierter Regeln entwickeln Mayers Arbeiten eine faszinierende poetische Kraft. Gerhard Mayers Kunst schafft, was wir uns häufig vergeblich für unser Leben wünschen: die Disziplin aufzubringen, Regeln einzuhalten, um davon ausgehend frei zu sein für eine immer neu und weiter zu entdeckende Schaffenskraft und Kreativität.
(Die Zitate des Künstlers sind dem Katalog "Interlocking" entnommen, erschienen 2004 im Verlag für moderne Kunst Nürnberg)